Fünf Gedanken zu „großen Veränderungen“
– inspiriert von Paul Revere bei einem Gang über den Bostoner Freedom Trail –
von Elke Sieber und Daniel Wensauer-Sieber
Wer uns in diesem Blog folgt, hat bereits festgestellt, dass wir uns mit dem Thema Veränderungen auseinandersetzen – sowohl in Unternehmen oder Institutionen wie auch in der Gesellschaft allgemein. Uns interessiert die Fragestellung, was Menschen antreibt zu Veränderungen, welche Motivationen sie haben – aber auch welche Ängste vorhanden sind und wie man diese überwinden kann.
In Boston auf dem Freedom-Trail angekommen, hatten wir es mit einer „Mutter der großen Veränderungen“ zu tun, zumindest für die USA: dem Kampf um die Unabhängigkeit vom Mutterland Vereinigtes Königsreich.

Der Freedom Trail in Boston führt an wichtigen geschichtlichen Ereignissen vorbei, die im Zusammenhang mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg stehen. Foto: swsp
Einer der Veränderungstreiber der Zeit war Paul Revere (1735-1818), Silberschmied und zur Ikone geworden mit seinem Mitternachts Ritt im April 1775, mit dem er vor den herannahenden englischen Truppen warnte. Aber was lässt einen Silberschmied zum „Veränderer“, ja zum Revolutionär werden?

Porträt von Pau Revere – Silberschmied und Revolutionär der ersten Stunden – gesehen um Museum of Fine Arts (MFA) in Boston. Foto: swsp
Wir möchten fünf Gedanken mit unseren Lesern teilen, die uns beim Gang über den Freedom Trail im Zusammenhang mit Veränderung durch den Kopf gingen. Der Freedom Trail ist übrigens eine rote Linie in Boston, die an allen relevanten Gebäuden und Ereignisplätzen der amerikanischen Revolution vorbeiführt.
Wir wissen, dass historische Vergleiche immer schwierig sind, aber vielleicht sind unsere Gedanken doch anregend und bringen auf neue Ideen, Einblicke oder sogar Erkenntnisse. Wir würden uns freuen.
Gedanke 1: Für Veränderungen braucht es einen Anlass.
Ausgangspunkt der Veränderung waren bei der amerikanischen Revolution äußere Umstände, denn die Engländer erhöhten beständig die Steuern, um Kriegsschulden zu tilgen. Die Reaktion auf die Forderung der Kolonisten „No taxation without representation“ war die Stationierung weiterer Truppen und das „Massaker von Boston“ 1770, bei dem fünf Kolonisten starben. Die darauffolgende Antwort: die „Boston Tea Party“, bei der die Kolonisten, darunter Paul Revere, aus Protest Tee in den Bostoner Hafen warfen. Die nächste Eskalation: weitere Repressionen der Engländer: so wurde die Schließung des Bostoner Hafens angeordnet und der Befehl zur Einquartierung von englischen Soldaten bei den Kolonisten ausgegeben. Der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit von England wurde unter den Kolonisten größer und so setzten sich immer mehr Menschen mit dem Gedanken auseinander, etwas zu verändern.
Und bei Unternehmen oder Institutionen?
Entweder sind es äußere Umstände oder innere Notwendigkeiten, die uns Unternehmen oder Institutionen weiterentwickeln lassen. Im Moment sind diese vielfältig: Digitalisierung, fehlende Fachkräfte, neu zu organisierende Lieferketten. Die Engländer waren für die Kolonisten ein „äußerer Anlass“, um zu handeln, wie dies im Moment z.B. Corona, Russlands Angriff auf die Ukraine, der Klimawandel oder auch demographische Faktoren sind. Es können aber sinkende Gewinne sein – oder auch Unzufriedenheit im Unternehmen sein, die uns zur Veränderung zwingen.
Gedanke 2: Die Möglichkeit zu handeln und den Mut es zu tun.
Erst im kleinen Kreis, dann in immer größeren Versammlungen debattierten die Kolonisten ihre Zukunft, ihre Wünsche und Ideen. 1773 sollen sich über 5.000 Kolonisten im und um das Old South Meeting House versammelt haben, wohl die Hälfte der damaligen Wohnbevölkerung Bostons. Nach und nach wurde die Bereitschaft, größer zu handeln, ein zentrales Motiv: Freiheit(en) wie es z.B. Patrick Henry (1736-1799) zum Abschluss seiner Rede am 9. Februar 1775 zum Ausdruck brachte:
„Give me Liberty, or give me Death!“
Am 19. April 1775 war dann der große Moment von Paul Revere. Um Mitternacht brach der Kolonist zu seinem Ritt auf und warnte die Kolonisten vor den herannahenden englischen Truppen – es war der Auftakt des Konflikts, der in dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mündete.

Dieses Reiterstandbild in Boston erinnert an Paul Reveres Ritt, mit dem er vor den herannahenden Engländern warnte. Im Hintergrund die Old North Church, von wo mit einem Lichtsignal die Ankunft der britischen Truppen signalisiert wurde. Foto: swsp
Und bei Unternehmen oder Institutionen?
Veränderungen können zum Beispiel vom Management erkannt und angegangen werden oder auch von der Belegschaft oder Einzelnen benannt und adressiert werden. Wichtig ist darum Durchlässigkeit und Austausch. Nur durch diesen Austausch, den Dialog, können gemeinschaftliche Lösungen gefunden werden – und wird die Veränderung später breit mitgetragen werden.
Es muss ja nicht gleich zur Revolution kommen wie in unserem historischen Beispiel. Oder vielleicht doch? Wenn man z.B. den Digitalisierungsgrad so mancher Behörden, Unternehmen oder auch Handwerksunternehmen betrachtet, sind hier große Veränderungen notwendig und gerade in solchen Prozessen ist es wichtig, Mitarbeitende und wichtige Stakeholder mitzunehmen, Umstände zu erklären, Fragen zu beantworten, Ideen aufzunehmen sowie Ängste wahr- und ernst zu nehmen.
Wichtig ist aber auch, dass Personen Verantwortung für die Veränderung übernehmen, bereit sind, „sich aufs Pferd“ zu setzen, um im Bild von Paul Revere zu bleiben. Neben einem wie auch immer gearteten Steuerungskreis macht es durchaus Sinn, eine Begleitgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern wichtiger Anspruchsgruppen zu bilden, die sich einbringt und mit denen Ideen für die Veränderung vorab gespiegelt werden.
Gedanke 3: Eine Vision formulieren – Declaration of Independence.
Ein starkes Jahr später am 4. Juli 1776 wurde ein weiterer großer Meilenstein erreicht: die „Declaration of Independence“ wurde vom Balkon des Old State House verlesen und die Unabhängigkeit ausgerufen. Mit dieser Erklärung wurde eine große Vision verkündet, die bis heute die USA zusammenhält. Zentrale Vision der Unabhängigkeitserklärung:
“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness”

Der zitierte Ausschnitt aus der „Declaration of Independence“ in einer Ausstellung des National Museum of American History (NMAH) in Washington DC. Foto: swsp
(„Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind.”)
Bis heute spielt diese Unabhängigkeitserklärung eine zentrale Rolle in der amerikanischen Öffentlichkeit und ist wichtiges Bindeglied zwischen der diversen amerikanischen Gesellschaft.
Und bei Unternehmen oder Institutionen?
Auch wenn uns immer wieder das alte Sprichwort Helmut Schmidts entgegengehalten wird, dass jemand der Visionen habe zum Arzt müsse (Anm.: wir glauben nicht, dass er es so gemeint hat – denn er war ja selbst ein großer Visionär) sind wir große Anhänger von Visionen, denn sie geben Motivation, Ziel und Kraft auf dem Weg nach vorne. Visionen sind – kurz gesagt – im Präsens formulierte, wünschenswerte Zukunftszustände, wie wir es bei der Unabhängigkeitserklärung gesehen haben.
Eine Vision kann nicht von heute auf morgen realisiert werden, sondern ist ein längerfristiges Ziel. Dabei sind hin und wieder Umwege und Anpassungen notwendig.
Die Formulierung im Präsens erleichtert uns Menschen, das definierte Zukunftsbild besser zu verinnerlichen. Wir selbst setzen gerne zur Entwicklung von Visionen Bilder, wie Postkarten, ein. Solche Bilder sagen häufig mehr als 1.000 Worte, ermöglichen Assoziationen und helfen so beim Verankern.
Gedanke 4: Mit der Vision – weitere Menschen für die Veränderungssache begeistern.
Die „Declaration of Independence“ trägt die Unterschrift von 56 Personen und war für viele weitere Menschen der Auftakt, sich einer großen Sachen anzuschließen – auch über den Atlantik hinweg kamen Deutsche und Franzosen, um den Freiheitskampf der Amerikaner zu unterstützen. Darunter Personen wie Marquis de La Fayette (1757-1834), der unentgeltlich mit einer selbst angeworbenen Truppe kämpfte, oder Friedrich Wilhelm von Steuben (1730-1794), der die Kontinentalarmee reorganisierte und zu dessen Ehren seit 1957 auf der 5th Avenue in New York jeden September die Steuben-Parade veranstaltet wird. Nicht nur die beiden haben ganz entscheidend dazu beitrugen, dass die Kolonisten gewinnen konnten und die Idee der „Declaration of Independence“ auch Anhänger im alten Europa fand.
Und bei Unternehmen oder Institutionen?
Es ist zwingend, für Veränderungsidee zu werben, Menschen zu begeistern und zum Mitmachen zu ermutigen. Selbst wenn von der Vision und Idee angetan, wissen Menschen häufig noch nicht, was sie Positives beitragen können, dann liegt es an den „Veränderern“ zu erklären, Möglichkeiten des Einbringens aufzuzeigen oder auch zu empowern bzw. zu befähigen. Es gibt viele partizipative Methoden, die dabei helfen, Menschen gemäß ihren Kompetenzen, Fähigkeiten und Persönlichkeiten zu beteiligen und sie für die wichtige Transformationen zu begeistern.
Und wenn wir hier schon bei historischen Stoffen sind: In der TV-Serie Turn: Washington’s Spies wird beschrieben, wie Farmer-Familien einen Spionage-Ring aufbauen und so ihre Fähigkeiten zugunsten der Kolonisten und für die Veränderung in der amerikanischen Revolution nutzen.
Gedanke 5: Veränderungen brauchen einen langen Atem und Niederlagen muss man einkalkulieren.
Bis 1783 dauerte es sieben entbehrungsreiche Jahre, bis der große Freiheitskampf gewonnen war. Es waren viele Schlachten notwendig, manche gingen verloren, die Mehrzahl wurde gewonnen – manche waghalsige Aktion wie das Übersetzen von Washington mit seinen Truppen über den winterlichen Delaware wurde zum Mythos.

Im Dezember 1776 setzte George Washington mit seinen Truppen über den Delaware – der Sieg war wichtig für die Motivation. Das Historengemälde des deutschen Malers Emanuel Leutze hängt heute im Metropolitan Museum of Art (MET) in New York City. Foto: swsp
Aber es war vor allem auch harte Arbeit und so musste 1777/78 die auf 5.000 Mann geschrumpfte Armee komplett reorganisiert werden. Die Soldaten mussten ausgebildet und befähigt werden, Regeln z.B. für Disziplin wurden eingeführt und durchgesetzt.
Und bei Unternehmen oder Institutionen?
Veränderung ist selten ein Sprint, sondern ein Marathon. Dabei ist es z.B. wichtig, Etappenziele zu benennen. Jedes überschaubare Etappenziel ist ein wichtiger Baustein, der zur Realisierung der Vision beiträgt. Solche Etappenziele sollten gefeiert werden, weil diese Teil-Erfolge Menschen motivieren, weiterzumachen und dranzubleiben.
Ein weiterer wichtige Aspekt ist es, das große Ziel nicht aus dem Auge verlieren, gerade wenn’s mal hart wird. Und: In die Menschen investieren sowie Rahmenbedingungen weiterentwickeln. Denn die Menschen sind Dreh- und Angelpunkt jeder Veränderung – heute wie damals. Und manchmal gehört auch vielleicht dazu, das Unmögliche zu wagen, so wie Paul Revere bei seinem mitternächtlichen Ritt, der die Kolonisten aufrüttelte und am Anfang einer großen Veränderung stand.
Anmerkung: 1951 wurde eine US-amerikanische Militärsiedlung in der jetzigen Karlsruher Nordstadt Paul Revere Village genannt, Nach Patrick Henry wurde ein Wohngelände der US-Streitkräfte in Heidelberg benannt, die „Patrick-Henry-Village„.