Von Wutbürgern und Zufallsbürgern – ein Breakfast Talk mit Gisela Erler
Wenn Wutbürger und Zufallsbürger ins Gespräch kommen, dann ist das Bürgerbeteiligung „made in Baden-Württemberg“. Beim 14. Breakfast Talk am 31. Januar 2020 – einer Initiative von Caemmerer Lenz und sieber l wensauer-sieber l partner – gab Staatsrätin Gisela Erler ihren Impuls “Vom Mitreden, Mitgestalten und Mitentscheiden“. Schnell wurde deutlich: Bürgerbeteiligung tut Not – gerade in Zeiten von Wutbürgern, Nichtwählern und einem Erstarken der politischen Ränder. Aber wie kommt man in den Dialog? Wie können Entscheidungen fallen? Und was bedeutet das für den politischen Prozess?
Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung
Bis heute haben die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 tiefe Spuren nicht nur in der Stuttgarter Gesellschaft hinterlassen, sondern auch Gräben gezogen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann setzte dem eine „Politik des Gehörtwerdens“ entgegen und berief seine politische Wegbegleiterin Gisela Erler 2011 als „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ in die Regierung (https://stm.baden-wuerttemberg.de/…/staatsraetin-fuer-zivi…/). Ein Ehrenamt, das nur Baden-Württemberg kennt, aber mit Kabinettsrang und Beratungskompetenz in alle Ministerien hinein.
Die Idee: moderierte Beteiligungsprozessen, um so Bürgerinnen und Bürger einzubinden und in einem strukturierten Verfahren von Fakten, anschließend Positionen von Interessengruppen und abschließendem Votum. So können Bürger einen aktiven Beitrag zur Entscheidung leisten. „Diese Bürgervoten sind hochqualifizierte Gutachten”, so Gisela Erler, Tochter des SPD-Politikers Fritz Erler und aufgewachsen in Pforzheim. Wo hat der Dialog schon gefruchtet? Sie nennt die Beispiele Neubau des Gefängnisses in Rottweil oder der Beteiligungsprozess der Pensionsvorsorge von Landtagsabgeordneten.
Mit Zufallsbürgern gegen die Blase
Wichtig bei solchen Verfahren, viele Sichtweisen einbinden. Darum Dreh und Angelpunkt des Prozesses ist der Zufallsbürger, ausgehend vom Dienel’schen Modell der Planungszellen aus den 80er Jahren (https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Dienel).
Über zum Beispiel Melderegister werden Bürger gelost und dann nach Verteilung der Bevölkerung zugeordnet. 50 Prozent Frau sind gesetzt, genauso wie alte und junge, aber auch Berufe und sozialer Status werden berücksichtigt. „So versuchen wir der Blase zu entkommen“, erklärt Erler. Die Blase ist mittlerweile zum Synonym für Politik in den sozialen Medien geworden, wo jeder Gefahr läuft durch Algorithmen in seiner Meinungsblase „hängenzubleiben“. Weiterer Effekt des Zufallsprinzips: „Menschen, die eher still sind, werden miteinbezogen“ (Erler).
Bürgerbeteiligung auch ein Modell für die EU?
In Frankreich, wo es kein Melderegister gibt, wird die Wasserrechnung genutzt, oder in Irland z.B. an jeder zehnten Haustür geklingelt, um Zufallsbürger auszuwählen. Überhaupt ist auch Europa unter der neuen Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen aufgewacht und interessiert sich für Bürgerbeteiligung „Made in Baden-Württemberg.“ Eine Einladung an Gisela Erler liegt schon vor. Wir haben unserer Referentin als Dankeschön für Ihren Impuls vor rund 40 Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik und Verwaltung ein kleines Stärkungspaket mit auf den Weg gegeben: mit Schokolade aus einem philippinischen Crowdfunding-Projekt, stilecht in einer nachhaltigen Vesperdose. Wir wünschen dieser inspirierenden und inspirierten Frau viel Erfolg und alles Gute beim Gang nach Brüssel – und im Zweifel immer daran denken: „Wir aus Ba-Wü können alles. Außer Hochdeutsch“!
Foto von links nach rach rechts Jörg Schröder (Caemmerer Lenz), Elke Sieber (sieber l wenauer-sieber l partner), Gisela Erler (Staatsrätin Baden-Württemberg), Daniel Wensauer-Sieber (sieber l wenauer-sieber l partner).
Fotos: Jürgen Rösner